Um eines klar vorwegzunehmen. Talent und Beharrlichkeit im Training kann durch den Einsatz von Virtual Reality nicht ersetzt werden. Ausdauersportler*innen werden für die Verbesserung ihrer maximalen Sauerstoffkapazität oder anaeroben Ausdauerleitung viele Stunden in der Woche trainieren müssen. Genauso ist für Fußballprofis das Training am Ball unerlässlich; für Turnerinnen ist es der Stufen- oder Schwebebalken. Der Einsatz von VR im Training ist in der Regel als ergänzendes Instrument gedacht. Virtual-Reality-Training ermöglicht es Sportler*innen Fähigkeiten in einer kontrollierten und realistischen Umgebung zu entwickeln, zu verbessern oder sogar zu perfektionieren. Das hat viele Vorteile.
- Realistische Simulationen:
VR ermöglicht es Athlet*innen realistische Trainingssituationen zu simulieren, ohne das Risiko von Verletzungen oder Ermüdung. Zum Beispiel können Fußballspieler*innen in einer virtuellen Umgebung verschiedene Spielszenarien durchspielen, ihre Entscheidungen unter Druck testen und die Taktik ihrer Gegner*innen analysieren. Tennisspieler*innen wiederum können ihre Aufschläge und Rückschläge üben. Solche simulationsbasierten Trainingsmethoden helfen, technische Fähigkeiten zu verbessern und die Reaktionszeiten zu optimieren.
- Automatismen verbessern:
In VR können spezifische Spielsituationen beliebig oft wiederholt werden. Dies ist besonders nützlich, um bestimmte Techniken zu verfeinern.
- Taktische Analyse und Spielvorbereitung:
Trainer*innen können Spielszenen aufzeichnen und diese in einer virtuellen Umgebung nachstellen, um den Athlet*innen ein besseres Verständnis für die Strategien des Gegners zu vermitteln. Diese Art der Analyse hilft den Sportler*innen, sich besser auf anstehende Spiele vorzubereiten und ihre eigene Spielweise zu verfeinern.
- Analyse der Leistung:
VR-Systeme können Daten über die Bewegungen und Reaktionen der Athleten sammeln, die dann zur Leistungsanalyse verwendet werden können. Diese Analysen helfen Trainern, gezielte Rückmeldungen zu geben und Trainingspläne zu optimieren.
- Mentales Training:
VR-Tools bieten Athlet*innen die Möglichkeit, ihre Konzentration und Stressbewältigung in simulierten Wettkampfsituationen zu trainieren. Durch die Nachbildung des Wettbewerbsdrucks können Sportler*innen lernen, mit Nervosität und Ablenkungen umzugehen.
Dies ist besonders in Sportarten wie Tennis, Golf oder Schießen von Bedeutung, wo der mentale Aspekt oft den Unterschied zwischen Sieg und Niederlage ausmacht.
- Rehabilitation nach Verletzungen:
Durch maßgeschneiderte VR-Programme können Athlet*innen ihre Bewegungsabläufe und Kraft verbessern und gleichzeitig ihr Gleichgewicht und Koordination trainieren, ohne sich körperlich überanstrengen zu müssen. Das hilft nicht nur in der Rehabilitation, sondern auch dabei, zukünftige Verletzungen zu vermeiden. Soweit die Theorie. Doch in der Tat haben sich für viele Athlet*innen in der Praxis neue Trainingsmöglichkeiten ergeben. Im Vergleich zu herkömmlichen Computerbildschirmen ermöglicht die VR-Technologie ein viel stärkeres Eintauchen in die virtuelle Umgebung. Die Abgrenzung von der realen Welt und High-Fidelity-Software führen zu einer viel intensiveren und körperlichen Erfahrung im Vergleich zum bloßen „Betrachten“ von Video- und Anwendungsinhalte auf einem herkömmlichen Screen.
Beim Österreichischen Skiverband ist VR bereits Teil der Trainingspraxis. Skirennfahrer*innen nutzen VR-Brillen, um bereits absolvierte Rennen noch einmal zu erleben und zu analysieren oder sich auf kommende Rennen vorzubereiten und zu üben. Das ist schlau, denn jede Abfahrt birgt für
Skirennfahrer*innen ein gewisses Verletzungsrisiko. Ressourcen schonend ist dieser VR-Einsatz darüberhinaus auch noch. Allein an diesem kleinen Beispiel erkennt man, welches Potenzial in dieser Technologie steckt.
Bereits vor einigen Jahren wurde in einer Studie an der Bishop´s Universität eine VR-Brille zur Verbesserung der Entscheidungsfindung bei jungen Basketballspieler*innen eingesetzt. Den Teilnehmenden wurden Videos von festgelegten Spielzügen gezeigt und sie mussten entscheiden, welche Aktion sie am Ende des Clips als nächstes ausführen würden. Spieler*innen, die sich die Videos in VR angesehen hatten, trafen auf dem Spielfeld signifikant bessere Entscheidungen als diejenigen, die sich die Spielzüge lediglich auf herkömmlichen Bildschirmen angesehen hatten.
Eine verbesserte Entscheidungsfindung hat auch die DFB-Akademie in einem zweijährigen Projekt bei den U16-Junior*innen als UseCase ausgemacht. Durch die Erzeugung einer 360°-Welt mit Darstellungen aus einem realen Spiel sollen sich die Spieler*innen auf die Vororientierung konzentrieren. Dabei müssen sie sich zwar physisch umschauen, ansonsten brauchen sie sich aber nicht anderweitig bewegen, so dass das Training sehr belastungsarm ist. Toni Kroos war zu seiner aktiven Laufbahn ein Meister der Vororientierung, denn er wusste zu jeder Zeit, wo er den Ball am besten hinspielen sollte. Ein wichtiger Skill für Fußballprofis, die zur Weltspitze gehören wollen.
Gerade in Sportarten wie Fußball, in denen richtige Entscheidungen von großer Bedeutung sind, kann VR genutzt werden, um mit Hilfe künstlicher Intelligenz (KI) alle Entscheidungsmöglichkeiten zu erkunden. Hier kann man mit verschiedenen Pass- oder Laufentscheidungen experimentieren, um herauszufinden, wie diese das Ergebnis des jeweiligen Spielszenarios verändert hätten. KI-Algorithmen könnten die Informationen über die Zeit vor dem Zeitpunkt der Entscheidung nutzen, um zu simulieren, was bei jeder anderen möglichen Entscheidung wahrscheinlich passiert wäre. Hochkomplex, hochtechnisch und höchstspannend.
Auch Individualsportarten haben den Ball längst aufgenommen. Mischa Zverev, ehemaliger Tennisprofi, Manager und Bruder von Alexander Zverev berichtet über Methoden und Wirksamkeit von VR-Training im Tennis. „Wir haben uns auf eine Kombination von VR-Brille und praxisorientierten Neuroathletik-Übungen fokussiert. Schnell haben wir hier die Wirksamkeit
gespürt. Im Grund gilt es, die Bewegungsmuster eines Körpers zu verbessern, die mit den üblichen Trainingsmethoden nicht möglich sind. Die große Chance der virtuellen Übungen mit der Brille liegt darin, dass diese spielerisch ablaufen und wir mit den gesammelten Daten eine Nachhaltigkeit der Übungsformen erzeugen können“, so Mischa Zverev. Gerade erst hat sein Bruder Alexander Zverev das Masters in Paris gewonnen und ist jetzt die Nummer zwei der Welt. Für Alexander Zverev sind Neuroathletik und Trainer Lars Lienhard ein wichtiger Bestandteil seines Erfolgs. Das Neuroathletik-Training mit der VR-Brille bringt für Alexander Zverev mehrere Vorteile. Zum einen lassen sich damit Automatismen, die gerade im Tennis sehr wichtig sind, trainieren. Zum anderen hat das VR-Training aber auch einen ganz praktischen Vorteil, wenn es um das Training mit dem Individual-Coach Lienhard geht: „Lars gibt es nur einmal auf der Welt und egal ob man in New York oder Australien ist, er kann nicht immer am gleichen Ort sein. Mit der VR-Brille kann ich das Training mit ihm trotzdem durchführen.“
Alexander Zverev arbeitet dabei mit IMPROVR zusammen. Das Münchener Unternehmen hat sich auf Athleten-Training mit VR spezialisiert und setzt auf Software, die vor allem kognitive Skills verbessern soll. Mehr Einblicke geben die beiden Zverev-Brüder dazu auf der ISPO Munich 2024. Dort sind die Beiden am 4. Dezember zu Gast und werden erklären, wie man heutzutage „intelligent trainiert“.
Trotz aller möglichen Anwendungsfälle und potenziellen Vorteile gegenüber herkömmlichen Trainingsmethoden mittels Video sollte man die Anwendung von VR-Training nicht überstrapazieren. Einheiten länger als 30 Minuten können Übelkeit oder Kopfschmerzen verursachen, die sogenannte Cybersickness. Das passiert häufig, wenn es ein Missverhältnis gibt zwischen dem, was Betrachtende sehen, und dem, was über den Gleichgewichtssinn im Innenohr an das Gehirn zurückgemeldet wird. Auch wenn die Hardware im Allgemeinen immer erschwinglicher und leichter wird, aktuelle VR-Brillen wiegen derzeit zwischen 500 und 600 Gramm. Das kann bei längeren Trainingseinheiten zu Unbehagen führen, da die Nackenmuskulatur der Athlet*innen zu stark beansprucht wird. Gerade wenn es um das Training von Automatismen geht, kann das durchaus kontraproduktiv sein.
Derzeit raten Experten zudem davon ab VR zu nutzen, um feinmotorische Fähigkeiten zu trainieren. Fehlendes haptisches Feedback und ein unvollkommener „Pseudeo“-Realismus können dazu führen, dass Bewegungsmuster gleich ganz falsch einstudiert werden. Das man das Training mit VR stets überprüfen muss, der Einsatz und die Entwicklung gerade erst am Anfang ist, das weiß auch Mischa Zverev: „Es ist immer als ergänzendes Trainingstool zu sehen. VR ersetzt mit Sicherheit kein bestehendes Training! Aber es können Bewegungsmuster des Körpers trainiert werden, die mit üblichen Trainingsmethoden nicht erreicht werden.“ Der Umgang und Einsatz von VR-Training ist aber sensibel zu betrachten. „Mit dem neurozentrierten Training und der VR-Technologie treffen gleich zwei neue, moderne Komponenten aufeinander, die vereint werden müssen. Am Ende kommt es auf die Wirksamkeit beim Athleten an. Und daran wird kontinuierlich gearbeitet“, so Mischa Zverev.
Wo die Grenzen von VR-Training sind, ist schwer zu beantworten. Sicher ist, dass noch lange nicht alle Anwendungsgebiete ausgereizt sind. Es gibt Vermutungen, dass VR-Entwickler auch die Verwendung von Bodysuits und Sportgeräten mit Tracking-Funktionen in Betracht ziehen können.
Das könnte den Weg ebnen zu einer realitätsnahen Sporterfahrung in einer virtuellen Umgebung. Schaffen es die Entwickler dann noch, Vibrationen in die Hardware zu implementieren, kann das möglicherweise zu einem Gamechanger werden. Mit dem Bob durch den Eiskanal, ohne dass man
selber vor Ort ist. Ein durchaus smarter Gedanke.
Zu erwarten ist, dass auch die Mixed Reality über VR-Brillen in Zukunft mehr Interesse und Anwendung finden wird. Eine 100-Meter-Sprinterin könnte sich beispielsweise ein Olympiastadion auf dem Trainingsgelände virtuell erzeugen, um im täglichen Training den wichtigsten Wettkampf des Jahres zu simulieren. Volle Ränge, jubelnde Zuschauer - alles so nah an der Realität wie möglich. Vorgestellte Szenarien und Abläufe können durchgespielt werden und dienen als mentale Wiederholungen möglicher realer Ereignisse. Der Umgang mit Leistungsdruck und Ängsten vor dem Wettkampf, das Einüben von Routinen, Stressmanagement und die Emotionsregulation - Sportpsychologen rücken schon mal die Brille zurecht. VR-Training als Gamechanger? Das Potenzial ist da und real.
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