Was ist das Gegenteil von einem wohl temperierten Pool? Unsere Autorin reist nach Snowdonia in Wales, um zu sehen, wo Schwimmen aufhört und Wild Swimming beginnt
Was ist das Gegenteil von einem wohl temperierten Pool? Unsere Autorin reist nach Snowdonia in Wales, um zu sehen, wo Schwimmen aufhört und Wild Swimming beginnt
Ich sitze am Ufer des Llydaw-Sees am Fuß des Mount Snowdon und beobachte, wie der Regen seitlich aufs Wasser fällt. Während die Wolken dichter werden und wieder auflockern, verschwindet die Bergwand aus meinem Blickfeld und taucht wieder auf. Der walisische Regenschauer ist so hartnäckig, dass er durch meine Regenkleidung sickert und meine Stiefel füllt. Ich weiß nicht mehr, wo der Regen beginnt und mein Körper endet. Das Wetter lädt nicht gerade zum Schwimmen ein. Werde ich das Wasser überhaupt spüren, wenn ich reingehe, frage ich mich? Wird es sich anders anfühlen als das Wasser, das vom Himmel kommt? Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden.
Sich auszuziehen, wenn die Lufttemperatur 10 Grad beträgt und man bereits durchnässt ist, liegt definitiv auf der masochistischen Seite des Vergnügungsspektrums – aber es ist für einen Schwimm-Nerd wie mich auch seltsam berauschend. Als ich in das Wasser des Llydaw-Sees eintauche – manche sagen, es ist der kälteste See Großbritanniens – fühle ich mich, als hätte Obelix seinen Hinkelstein auf meine Brust fallen lassen. „Oh. Mein. Gott.“ presse ich aus meinen Lungen, während ich nach Luft schnappe. Meine Worte wandern über den eisigen See. Ich bin mir ziemlich sicher, dass Gott nicht zuhört – der Berg schon. Ich werde Teil von ihm. Hätte es einen Zuschauer gegeben, er hätte vielleicht auf mich gezeigt und gesagt: „Eine Verrückte!“ Aber in diesem Moment fühle ich mich alles andere als verrückt. Ich bin allein. Jede Zelle meines Körpers summt.
„Ist es das?“, frage ich mich. Ist das der Punkt, an dem Wild Swimming anfängt? Ich habe mich oft gefragt, was genau Wild Swimming bedeutet. Hier in Großbritannien heißt es einfach, sich in einem Gewässer zu bewegen, das kein Pool ist. Doch in Deutschland, wo ich aufgewachsen und als Kind in den bayerischen Seen geschwommen bin, wurde und wird diese Tätigkeit einfach als Schwimmen bezeichnet. Vielleicht ist es also genau das hier: eine sensorische Welle, die man nicht nachbilden kann – inklusive des tauben Gefühls in Fingern und Zehen. Eine kurze Pause – verstärkt, bedeutungsschwanger – im Strom des Lebens.
Mein übliches Baderitual sieht so aus, dass ich einmal in der Woche im Hampstead Ladies Pond in London schwimme. Deshalb wollte ich ein Abenteuer erleben, das der Wildnis Raum gibt. Ich sehnte mich nach dem Unbekannten, war begierig darauf, neue Wasser zu erkunden. Nach reiflicher Überlegung beschloss ich, in eine mir völlig fremde Landschaft einzutauchen, eine bergige Region, die in den Legenden von König Arthur vorkommt und in der es eine Vielzahl von Seen gibt: den Snowdonia Nationalpark in Wales. Es heißt, die Natur dort sei so unberührt wie damals, als die Welt entstand.
Da es im 2000 Quadratkilometer großen Park 250 Seen zur Auswahl gibt, war es schwierig, meine Auswahl auf einen Wochenendtrip zu beschränken. Aber nach ein wenig Recherche entschied ich, die Seen und Wasserfälle um den höchsten Gipfel in Wales, den beliebten Mount Snowdon, zu erkunden. Als ich aufbrach, war mir nicht bewusst, dass Snowdonia mit durchschnittlich 270 Regentagen und etwa 3 Metern Niederschlag pro Jahr der nasseste Ort in Wales ist. Aber ich merkte es schnell.
Und so stehe ich jetzt auf einem Granitfelsen im Gletscherwasser des Llydaw-Sees und umarme mich selbst, damit mir wärmer wird. Ich starre auf den Haufen nasser Kleidung am Ufer und frage mich, wie ich sie wieder anbekomme. Mit einem Gefühl, als hätte mich ein nasser Fisch geschlagen, hänge ich noch etwas länger auf diesem Außenposten rum. Man kann es auch Hinauszögern nennen. Zurück an Land bin ich sehr dankbar für meine Last-Minute-Anschaffung, einen knallroten Handtuchmantel, der aussieht wie ein Poncho. Ihn anzuziehen, ist wie die warme Umarmung eines nackten Wikingers.
Nasse Kleidung anzuziehen, wenn man selbst nass ist, ist ein ganz schönes Theater. Aber weil ich jedes Gefühl in meinen Händen und Füßen verloren habe, wird sogar das zu einem amüsanten Ereignis. Ich lache – vielleicht werde ich hysterisch – während ich zittere und fast ausrutsche, als ich mit nassen Socken und einer noch nasseren Regenjacke kämpfe. Die schnell untergehende Sonne versucht mit ihren Strahlen die hartnäckigen Wolken zu durchbrechen, und färbt den Himmel gelb und pink, wie in den Bildern des englischen Malers William Turner. Ich laufe an grasenden Schafen und glitzernden Felsbrocken vorbei, die wie die Fingerknöchel eines Ogers in den Hügeln sitzen, und erreiche den Anfang des Pfades am Pen-Y-Pass, kurz bevor die Dunkelheit einsetzt.
Nach einer gemütlichen Nacht in einer Campinghütte in der Nähe – komplett mit Bettwäsche, Heizung und, halleluja, einem trockenen Raum – mache ich mich auf den Weg zu den Wasserfällen am Watkins Pfad, noch bevor der Morgennebel verflogen ist. Der Tag, so scheint es, wird eine walisische Anomalie: trocken und sonnig. Der Weg beginnt im Wald. Das Blätterdach schimmert, als die Morgenstrahlen durch die Blätter sickern und mich geradezu betören. Wie von einem Rattenfänger aus Pflanzen verzaubert, gehe ich tiefer in den Wald.
Dreißig Minuten später trete ich auf eine weite, offene Fläche. Einzelne Bäume stehen hier am Rand eines niedrigen Gebirgskamms und sehen zu, wie das Wasser vom Berg hinab in tiefe, klare Teiche fließt. Es ist wie ein Poster, das zum Leben erwacht ist – der feuchte Traum eines Travel-Influencers. Überall steht „hash-tag me“. Aber diesen Ort zu teilen scheint mir wie ein Missbrauch. Ich bin am Anfang der Zeit angekommen. Die Teiche, die in kleinen Taschen am Fuß des Berges versammelt sind, sehen aus wie Snowdons Tränen der Freude und des Kummers. Zarte Gefühlsausbrüche, die flüstern: „Ich bin das Land. Sei hier behutsam.“
Obwohl ich weiß, dass es brainfreeze-kalt sein wird, ist es ganz leicht, ins Wasser zu gehen. Ich lasse das Wasser durch meine Finger rinnen. Das kann man nicht bei Burger King kaufen. Nach meiner Waschung besteige ich Snowdon – am Ende klettere ich eher – und laufe den Weg auf der anderen Seite hinab. Ich bin so abgelenkt von der Schönheit der Landschaft, dass ich vom Weg abkomme, direkt in ein Gebiet, das wirkt wie die Schlucht des Todes, eine Felswand, so steil, dass ich überrascht bin, nicht über menschliche Totenschädel und andere Überreste von Wanderern zu stolpern. Ich schaffe es irgendwie hinunter, und sehe dabei eindeutig mehr wie ein Walross aus als eine Bergziege.
Nach der sechsstündigen Snowdon-Expedition bin ich verschwitzt und erschöpft, aber auch fest entschlossen, mich im nahegelegenen Gwynant-See abzukühlen. Ich finde die Idee verlockend, eine längere Strecke zu schwimmen und zwänge mich in meinen Neoprenanzug. Die Schwimmboje hinter mir herziehend, schwimme ich dem Sonnenuntergang über dem Gipfel des Snowdons auf der anderen Seite des Sees entgegen. Obwohl ich meine Hände kaum sehen kann, während sie durch das rostfarbene Wasser gleiten, leert sich mein Geist langsam mit jedem sprudelnden Ausatmen.
Mitten auf dem See drehe ich mich auf den Rücken und schaue in die Wolken. Zwischen dem Auftrieb des Wassers und der Unendlichkeit des Himmels, die auf meine Vorderseite einströmt, bin ich schwerelos, frei. Ich bin eine Astronautin, hier auf der Erde. „Wer bin ich?“, könnte ein Philosoph an dieser Stelle denken. „Was ist der Sinn?“ Meine Antwort: Pizza. Man sollte niemals den Hunger unterschätzen, den eine solide Schwimm-Wander-Schwimm-Kombination auslöst. Ein epischer Tag erfordert episches Essen, was es, wie ich feststelle, im ruhigen Nachbarort Beddgelert nur bis 19 Uhr gibt. Danach werden die Bürgersteige hochgeklappt.
Obwohl ich wie ein Stein schlafe, wie narkotisiert, schaffe ich es irgendwie, um 5.30 Uhr aufzustehen, um den Dinas-See vor Sonnenaufgang zu erreichen. Als ich an den See komme, ist es noch ziemlich dunkel. Ich halte meinen noch nassen Badeanzug in der Hand und frage mich, ob diese frühmorgendliche Mission eine gute Idee war. Ich könnte wieder ins Bett gehen. Oder einfach nur hier sitzen, denke ich. Aber als ich den dichten Nebel vom Wasser aufsteigen sehe und die feinen Lichtunterschiede, ruft mich der See. Ich betrete das dunkle, tintenfarbene Wasser und liefere mich den Elementen aus. Es ist kalt, gespenstisch sogar, wie die Landschaft in einem Grimm-Märchen. An den Ufern schält sich langsam das satte Grün der Bäume aus dem Schwarzweißbild, während Entenküken vorbeiziehen. Dann spiegeln sich plötzlich, wie bei einem perfekten Rorschachklecks, die Hügel im See wider. Ja, denke ich. Es ist besser, geschwommen zu sein und gezittert zu haben als überhaupt nicht geschwommen zu sein. Denn wie immer kommt man ein wenig verändert aus dem Wasser heraus.
Ich verschlinge ein herzhaftes Frühstück im gemütlichen Caffi Gwynant in der Nähe, bevor ich mich auf den Weg zum letzten Badeplatz der Reise mache, dem Llyn-Yr-Arddu-See, an den oberen Flanken des zerklüfteten Yr-Arddu-Berges. Dieser See, wie ich bald feststelle, liegt so abseits der ausgetretenen Pfade, dass es eigentlich keine Wege gibt und ich am Ende eine Felswand hochsteigen muss, die eher etwas für Alex Honnold wäre, den Free-Solo-Kletterer, als für mich kleine, alte Schwimmerin. Aber ich klammere mich am Heidekraut und am Fels fest, um mich hochzuziehen und klettere Stück für Stück nach oben. Dumm, denke ich. Du hast Kinder zu Hause. Es ist wie in „In eisige Höhen“, aber in Wales. Ein kleines bisschen weiter, sage ich mir immer wieder, nur ein kleines bisschen weiter.
Zum Glück wird die Landschaft etwas flacher, bevor ich vom Berg falle. Ich klettere durch grasbewachsenes Moorland, die Erde schluckt meine Füße bei jedem Schritt. Fast da, denke ich, fast da. Und dann, einfach so, erscheint der See Llyn-Yr-Arddu vor mir. Frisch, einsam, wild. Während am Ufer blau karierte Libellen tanzen und walisische Wolken am Himmel wirbeln, gehe ich ins Wasser. Dankbar, dass ich nicht aufgegeben habe. Dankbar für die Einsamkeit. Dankbar, dass ich – für einen kurzen Moment – nicht nur in der Landschaft verloren war, sondern ein Teil von ihr wurde.